Trutz by Hein Christoph
Autor:Hein, Christoph
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Jahrhundertroman; Familie; Nationalsozialismus; Russland; Gedächtnistraining; Neurolinguistik
Herausgeber: Suhrkamp Verlag
veröffentlicht: 2017-03-10T00:00:00+00:00
8. Kapitel
Im Januar wurde Leopold Stadler, Rainer Trutzâ Brigadier, von zwei Männern abgeholt, bei deren Auftauchen weder der Pförtner an der Holzschranke zur Baustelle noch irgendeiner der Ingenieure nach einem Berechtigungsschein fragte. Auch Stadler lieà sich keinen Ausweis zeigen, als sie ihn vor seinen Arbeitern barsch aufforderten, mitzukommen. Am darauffolgenden Montag, sie hatten drei Tage lang unter Anleitung des stellvertretenden Brigadiers Rotzger arbeiten müssen, kam Sertschuk, ein Baugeologe und der Schichtleiter ihres Metroschachts, der den alten Kolesnikow abgelöst hatte, frühmorgens mit einem älteren, hinkenden Mann, der sich auf eine Krücke stützte, zur Brigade. Sertschuk teilte ihnen mit, Stadler sei als Brigadier abgelöst und aus den Reihen der Erbauer der Metro ausgestoÃen worden, da die Staatsanwaltschaft gegen ihn Anklage wegen eines Devisenvergehens erhoben habe. Ihr neuer Brigadier, und dabei deutete er auf den etwa fünfzigjährigen Mann neben sich, sei Francisco Ãlvarez, ein Spanienkämpfer, der noch bis Ende September die Region Terra Alta in der Ebroschlacht verteidigt und sich dann, schwer verletzt, mit Hilfe französischer und englischer Genossen nach Moskau habe durchschlagen können.
»Genosse Ãlvarez ist über die Aufgabenstellung informiert, er hat Erfahrungen als Leiter einer Kolonne und er ist politisch geschult. Seine Verwundung im Kampf gegen die Franco-Banditen wird ihn nicht hindern, die internationale Brigade Karl Marx zu einer Kampfgruppe sozialistischer Akkordarbeiter umzugestalten. â Bitte, Genosse Ãlvarez, du hast das Wort.«
Ãlvarez betrachtete schweigend die Mitglieder der Brigade.
»Guten Tag, ihr Erbauer der Metro«, sagte er dann in einem sehr harten Russisch und mit leiser, heiserer Stimme, »lasst euch davon nicht täuschen« â er klopfte mit seinem Stock gegen das linke Bein â, »diese Prothese wird mich nicht davon abhalten, mit meiner Brigade im sozialistischen Wettbewerb der Metro-Bauer mitzuhalten. Unter meinem Vorgänger ist diese Brigade in den acht Jahren, die sie existiert, nicht ein einziges Mal ausgezeichnet worden, das werden wir gemeinsam ändern. Der Stellvertreter kommt zu mir, die anderen arbeiten wie eingeteilt. Es lebe der Genosse Stalin.«
Sertschuk lächelte überrascht, nickte und verlieà den Platz, die Männer murmelten einen Gruà und gingen an ihre Arbeit zurück. Rotzger, der Stellvertreter, trat zögernd und beunruhigt zu dem neuen Brigadier, gab ihm die Hand und nannte seinen Namen, er wirkte angespannt.
»Gehen wir in die Baracke«, krächzte Ãlvarez, drehte sich um und ging hinkend und auf den Stock gestützt, aber sehr eilig in die Baubaracke.
Rainer hatte zusammen mit Friedhard Schüssler Zementsäcke zu transportieren. Die Papiersäcke mussten auf rostigen, durchlöcherten Schubkarren über verdreckte Laufplanken gefahren werden. Als sie vor dem Fördergerüst warten mussten, weil sich ein Seil in der Seilscheibe über der Schachtachse verklemmt hatte, sagte Schüssler zu Rainer: »Neue Besen kehren gut, heiÃt es bei uns. Ich weià nicht, ob die Spanier auch einen Spruch dafür haben.«
»Ja, er will uns das Arbeiten beibringen«, sagte Rainer leise, »das wird heiter werden.«
»Keine Auszeichnung, das regt ihn auf. Mein Gott, er wird auch noch lernen, dass man ihm nicht die Brigade Karl Marx gegeben hat, sondern die Dermowschtschiks, und die bekommen nun mal keine Auszeichnungen. Würde wohl auch kein gutes Bild abgeben: Dermowschtschiks mit Leninorden.«
Er nahm seine Karre auf und schob sie zum Entladen an den Strebepfeilern vorbei unter den Hammerkopfturm.
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